Um ganz im Heute leben zu können, muss man seine Vergangenheit abstreifen und sich von allem trennen, was nicht wirklich von Wert ist. Nur auf diese Weise lassen sich die alten Muster und verkrusteten Strukturen auflösen, die sich über die Jahre in uns angesammelt haben und uns nunmehr blockieren. Wie jedoch schafft man es, seine Vergangenheit loszuwerden – oder zumindest ihre belastenden Anteile? Induzierte Amnesie? Existiert so etwas überhaupt?
Keine Angst, ich habe nicht vor, von Elektroden am Kopf oder toxischen Cocktails zu erzählen; mein Lösungsansatz ist ein ebenso simpler wie ungefährlicher.
Der von mir hochgeachtete Schriftsteller Paulo Coelho ließ diese Methode einen kasachischen Schamanen erklären. So habe ich von ihr erfahren. Wer sie letztendlich erfunden hat, ist mir unbekannt – doch am wichtigsten ist ohnehin, dass sie tatsächlich wirkt. Ja, obgleich ich die Methode für meine Zwecke aus praktischen Gründen ein wenig abgewandelt habe, kann ich das bestätigen. Aber beginnen wir am Anfang.
Um sich weiterzuentwickeln, muss sich der Mensch geistig bewegen. Wenn er allerdings stets sein komplettes bisheriges Leben hinter sich herzerren muss, kommt er entweder nur äußerst mühsam oder überhaupt nicht voran. Das Ablegen des Gewesenen ist also zwingend notwendig, um Platz für Neues zu schaffen und unbeschwert seinem Weg folgen zu können. Wie aber kann man die persönliche Vergangenheit ablegen, seine ureigene Geschichte, wo wir doch alle wissen, wie schwer es fällt loszulassen?
Der Schamane sagt, man müsse laut davon erzählen – immer wieder und bis in die kleinsten Details. Dabei verabschiede man sich von dem, was man einmal gewesen sei und öffne Räume für eine neue, unbekannte Welt. Man solle seine alten Geschichten so lange erzählen, bis sie für einen selbst nicht mehr von Bedeutung seien.
Da stellt sich die Frage, ob man so nicht auch das Risiko eingeht, wichtige Erinnerungen und wertvolle Erfahrungen zu verlieren. Der Schamane verneint das: Die wichtigen Dinge blieben immer erhalten – verschwinden würden nur solche, die wir fälschlicherweise für wichtig erachteten.
Das hat mich nachdenklich gestimmt. In der Tat ist es so, dass wir permanent kostbare Lebensenergie aufwenden, um zu beobachten, zu überwachen und zu steuern, was die Aufmerksamkeit schlichtweg nicht wert ist. Dinge, die vielleicht früher einmal relevant für uns waren, uns heute aber maximal peripher berühren oder unser Leben gar vollends verlassen haben. Das Niederlegen dieser Verhaltensweise stelle ich mir zweifellos als großen Gewinn vor, doch lässt sich so etwas wirklich durch reines Erzählen bewerkstelligen? Und warum laut? Wer sollte das Publikum sein? Und wer ist schon bereit, sein Innerstes vor Publikum nach außen zu kehren?
An dieser Stelle verlasse ich den Weg des Schamanen. Ich sitze nicht des Nachts an einem Lagerfeuer in der kasachischen Steppe und blicke in die erwartungsvoll geöffneten Augen meiner Stammesmitglieder, die nur darauf warten, immer und immer wieder dieselben alten Geschichten zu hören. Nichtsdestoweniger verspüre ich tief in mir das Gefühl, dass an dieser Methode etwas dran sein könnte – etwas, das tatsächlich funktioniert.
Schon vor langer Zeit habe ich an mir selbst ein Phänomen beobachtet, das vermutlich jeder Hirnforscher mit wenigen Worten wissenschaftlich erklären könnte. Ich kann das nicht, doch das ändert nichts daran, dass ich es für mich als ungemein bedeutend erachte.
Es fing damit an, dass ich mein alltägliches Denken genauer unter die Lupe nahm. Da waren zig Stimmen in mir, die munter durcheinanderplapperten, sich stritten, verbündeten und erneut zu streiten begannen. Jede Stimme beharrte auf ihrer Meinung – mal inbrünstig und dominant, dann wieder zurückhaltend und kleinlaut. Manchmal verstummten sie so unvermittelt, wie sie aufgetaucht waren. Konnte es im Kopf eines halbwegs intelligenten Menschen wirklich derart chaotisch zugehen? Und ob es das konnte!
Dann allerdings bemerkte ich Folgendes: Sobald ich versuchte, mich zu artikulieren, verlor das Stimmenchaos an Intensität und eine gewisse Ordnung hielt Einzug. Beinahe so, als müssten sich die Stimmen der einzelnen Gedanken vor dem Sprachzentrum in einer Schlange anstellen und darauf warten, sich zu echten Worten entwickeln zu dürfen. Und dort – am Eingang des Sprachzentrums – schien ein Wächter zu stehen, der nur die wesentlichsten Gedanken passieren ließ und die für brauchbar befundenen obendrein anwies, sich diszipliniert aneinanderzureihen.
Ihr werdet euch jetzt vielleicht fragen, was all das mit dem Schamanen zu tun hat. Nun, ganz einfach: Wer glaubt, im Klartext zu denken, der irrt. Nur das Sprechen sowie das Schreiben erfolgen im Klartext. In diesem Fall bedeutet das, seine Gedanken in einer sinnvollen und wohlstrukturierten Kette aufzureihen und anschließend zu verbalisieren. Kein Vergleich also zur Gedankensuppe, die da sonst quer durch unsere Hirne geistert.
Letztlich soll der Rat des Schamanen nichts anderes bewirken, als dass wir unsere Lebensgeschichte in ebensolch klare Strukturen bringen und den Torwächter am Sprachzentrum seines Amtes walten lassen. Dieser trennt nämlich die Spreu vom Weizen, sprich die wichtigen von den unwichtigen Dingen in unserem Erfahrungsschatz.
Je öfter und intensiver wir das tun, desto deutlicher werden wir den Aufräumeffekt wahrnehmen. Mit einigem Training lässt sich sogar das wilde Geplapper im Kopf abstellen, da wir irgendwann tatsächlich Klartext denken. Anbei bemerkt hat das einen großartigen Nebeneffekt: Denken im Klartext mag zwar anfangs, wenn man noch nicht über ausreichend Übung verfügt, recht anstrengend sein, wird mit der Zeit aber immer einfacher – bis einem schließlich bewusst wird, welche Kraft es zuvor gekostet hat, sich unentwegt mit jenem bunten Stimmenchaos auseinanderzusetzen. An diesem Punkt ist man in der Lage, Neues mit ungekanntem Elan anzugehen oder sich schlicht und ergreifend in völliger Gelassenheit zu entspannen.
Wer mir bis hierher folgen konnte, würde jetzt wahrscheinlich gerne wissen, wo er den geeigneten Platz für sein tägliches Lagerfeuer sowie die passende Zuhörerschaft finden soll. In Wirklichkeit bedarf es jedoch weder eines Feuers noch eines Auditoriums. Der Schamane wählte das laute Sprechen nur, weil er weder Laptop noch Internet kannte, denn die Prozesse, die beim Sprechen und beim Schreiben im Hirn ablaufen, sind sich ganz schön ähnlich: Beides macht von den Funktionen des Sprachzentrums Gebrauch. Wer also nicht sprechen kann – oder wem keiner mehr zuhört –, der kann einfach aufs Schreiben zurückgreifen.
Also los, schreibt eure Geschichten auf, detailliert und immer wieder – so lange, bis euch alles Unwesentliche und Belastende verlassen hat und Platz für Neues geschaffen wurde. Füllt Tagebücher mit Erinnerungsgeschichten, schreibt euren Freunden und Vertrauten, bringt all das zu Papier, was euch in der Vergangenheit beschäftigt hat. Bloggt über euer altes Leben und über das neue gleich mit. Verfasst endlose Mails oder einfach nur Texte für euch selbst. Vertraut euch den Worten an!
„Moment einmal, Texte nur für einen selbst?“, höre ich euch nun fragen – und kann das mit einem deutlichen „Ja!“ beantworten. Ich verrate euch nämlich noch etwas: Natürlich ist es schön, wenn ihr für eure zukünftigen Werke auch Leser findet und mit Feedback rechnen könnt, erforderlich ist das allerdings nicht. Der entscheidende Prozess vollzieht sich in euch selbst, in eurem Inneren. Wichtig ist nur, dass ihr eure Erzählungen detailgetreu und ehrlich gestaltet, keinen Bogen um unschöne Themen macht und auch weniger angenehme Lebensbereiche nicht auslasst.
Ich wünsche euch viel Erfolg dabei!
(Ausgangstext: Frank Schreiner)